Meldung 20. Februar 2025

Prof. Dr. Martin Werding, Mitglied im Sachverständigenrat für Wirtschaft, mahnt eine effizientere Ausgabenpolitik und mehr Eigenvorsorge im Bereich der Sozialversicherungen an. Er warnt: Steigen die Beiträge weiter ungebremst an, gefährden wir unsere wirtschaftliche Entwicklung.

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Prof. Dr. Martin Werding, die umlagefinanzierte Kranken- und Pflegeversicherung befindet sich in einer bedrohlichen finanziellen Schieflage. Sind das die Auswirkungen des demografischen Wandels?

Anfang dieses Jahres sind die Beitragssätze für die Kranken- und Pflegeversicherung stark gestiegen, zusammen um einen Prozentpunkt. Das ist aber noch gar nicht der demografische Wandel. Der entfaltet sich erst voll in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Darum ist in der Rentenversicherung jetzt auch noch nichts passiert; da kommt ein Beitragssatzsprung in zwei Jahren. In der Kranken- und Pflegeversicherung sind das Folgen politischer Entscheidungen der letzten Jahre, wo man die Ausgaben einfach nicht genügend dämpft.

Wenn wir nicht gegensteuern, steigen die Beiträge zur Sozialversicherung bis 2030 auf 45 Prozent – und danach geht es so weiter.

Prof. Dr. Martin Werding , Mitglied im Sachverständigenrat für Wirtschaft

Auch die Quote von 40 Prozent an Sozialabgaben, die lange Zeit galt, ist bereits überschritten. Geht das jetzt immer so weiter?

Wenn wir nicht gegensteuern, geht das immer so weiter. Wir sind jetzt schon bei 42 Prozent in der Summe der Sozialversicherungsbeiträge. Das werden binnen weniger Jahre, bis 2030, 45 Prozent – zurückhaltend geschätzt. Und danach geht es immer weiter, also 50 bis 55 Prozent. Die Frage ist nicht ob, sondern wann.

Was hieße das für Versicherte, aber auch für die deutsche Wirtschaft?

Man denkt natürlich als Erstes daran, was es für die Versicherten bedeutet, die diese Beitragssätze entrichten müssen. Da bleibt weniger vom Netto. Das ist auch ein wichtiger Effekt; das könnte man durch Lohnverhandlungen konterkarieren. Am Ende sind es dann die Lohnkosten, die stark steigen, oder eben die Arbeitgeberanteile. Die Hauptgefahr ist eigentlich, dass wir unsere wirtschaftliche Dynamik – die von vielen Seiten unter Druck ist – auch von der Seite her gefährden, dass wir Arbeitsplatzverluste erleiden werden.

Gibt es eine Schmerzgrenze bei der Sozialabgabenquote, einen Punkt, der nicht überschritten werden dürfte?

Es ist tatsächlich so, dass die Schmerzgrenze im Grunde schon jenseits 40 Prozent beginnt. Wegen des demografischen Alterungsprozesses müssen wir aktuell an die Jungen und an die Alten denken und gucken, wie wir einen gerechten Ausgleich hinkriegen in jedem der Systeme. Das muss gemacht werden, weil sonst unsere wirtschaftliche Entwicklung sehr schlecht wird.


Interview-Serie „Starke Stimmen - starkes Gesundheitssystem"

Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft über Herausforderungen und Lösungen für das Gesundheitssystem

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Eine Möglichkeit, um die Beitragssätze zu stabilisieren, wäre, die Beitragsbemessungsgrenzen in der Kranken und Pflegeversicherung anzuheben, zum Beispiel auf das Niveau der Rentenversicherung. Was halten Sie davon?

Gerade im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung geht es nicht darum, mehr Geld zu mobilisieren für das System, sondern darum, das Geld, das im System ist, zielgerechter, effizienter zu verwenden. Also wäre im Grunde gar nicht die Frage: Wo kriegen wir zusätzliche Beiträge her? Sondern: Wo gehen die Ausgaben hin? Und kann man da nicht im Grunde ohne Qualitätsverluste sparen?

Ebenfalls im Raum steht der Vorschlag, die Steuerzuschüsse zur Gesetzlichen Kranken- und zur Sozialen Pflegeversicherung zu erhöhen. Wäre das eine Lösung?

Man muss die Sozialversicherung im Ganzen sehen. Wir haben schon gigantische steuerfinanzierte Bundesmittel für die gesetzliche Rentenversicherung. Das ist eine Riesenbelastung für jeden Bundeshaushalt. Ungefähr ein Viertel des Haushaltsvolumens geht in die Rentenversicherung. Das heißt, wir können diese Strategie nicht auch gegenüber der Krankenversicherung, der Pflege usw. verfolgen. Es gibt gute Gründe, zum Beispiel die Gesundheitskosten für Grundsicherungsempfänger nicht aus Beitragsmitteln, sondern aus Mitteln des Bundes zu finanzieren. Einen begrenzten Spielraum, um zielbezogen, begründbar Steuermittel in die Systeme zu leiten, kann es geben. Aber dass man, wie in der Rentenversicherung, relativ pauschal sagt, wir geben da immer mehr Milliarden rein, um die Beiträge zu stabilisieren: Das kann man nicht machen.

Wo es möglich ist, gehört mehr Eigenvorsorge ins System.

Prof. Dr. Martin Werding , Mitglied im Sachverständigenrat für Wirtschaft

Gehört für Sie also mehr Eigenvorsorge ins System?

Wo das möglich ist, auf jeden Fall. Das heißt, wir müssen den Jüngeren den Spielraum dazu lassen. Schon deswegen dürfen die Sozialversicherungsbeiträge nicht so steigen, wie sie es unter dem geltenden Recht ohne Reformmaßnahmen auf der Ausgabenseite tun müssten. Man muss sich im Einzelnen anschauen, wie man damit umgeht, dass natürlich auch die Sparfähigkeit von den Einkommen der Erwerbstätigkeit abhängt, dass es da Ungleichheiten gibt. Aber die grundsätzliche Richtung muss genau die sein.

Mit Blick auf die Finanzierung unseres Gesundheitssystems – was sollte die neue Bundesregierung als Erstes angehen?

Im Gesundheitssystem ist zuletzt etwas passiert. Die verabschiedete Krankenhausreform hat ihre Vor- und Nachteile. Wenn sie wirklich umgesetzt wird, verspricht sie auf Dauer schon Strukturen, die effizienter sind und deswegen auch kostengünstiger sein müssten. Das ist aber noch nicht der entscheidende Durchbruch. Wir brauchen eigentlich immer noch Strukturen, wo die Leistungserbringer, Krankenhäuser, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte Anreize bekommen, wirtschaftlicher zu arbeiten. Und das muss eventuell unterstützt werden durch die Versicherten – also durch differenzierte Tarife. Man könnte zum Beispiel sagen: Die Krankenkassen, die ein strikteres Versorgungsmanagement organisieren können, haben niedrigere Beiträge. Und wer eine höhere Absicherung will, wer zum Beispiel mehr Wahlfreiheit bei Ärzten und Krankenhäusern will, der muss selbst zuzahlen. Das tun wir in Deutschland bisher sehr wenig im internationalen Vergleich. Solange sichergestellt ist, dass die Versorgung, die allen zugänglich ist, qualitativ hochwertig und flächendeckend vorhanden ist, sehe ich darin kein Problem. Da ist Eigenverantwortung dann auch im Gesundheitssystem unter Umständen Thema.