Meldung 06. November 2024

Die Forderung nach einer Pflegevollversicherung ist derzeit bei vielen politischen Akteuren in Mode. Das verwundert angesichts der Schlagzeilen über steigende Eigenanteile nicht. Doch eine Vollversicherung ist keine Lösung. Sie ist nicht nur unsolidarisch, sondern führt zu erheblichen Belastungen.

Die Diakonie Deutschland hat eine neue Kampagne zur Reform der Pflegeversicherung vorgestellt. Eine der zentralen Forderungen ist dabei die Einführung einer Pflegevollversicherung. Bereits im vergangenen Jahr hatten dies der Paritätische Gesamtverband, die Gewerkschaft Verdi und der Biva-Pflegeschutzbund gefordert.

Sie alle lassen außer Acht, dass das Kernproblem in der Pflege das Umlageverfahren der gesetzlichen Pflegeversicherung ist. Denn hier müssen demografiebedingt immer weniger Jüngere für immer mehr ältere Pflegebedürftige zahlen. Doch auch losgelöst davon wäre eine Pflegevollversicherung schon für sich genommen nicht zielführend. Und das aus mehreren Gründen.

1. Kein sozialpolitischer Handlungsbedarf

Seit über 25 Jahren liegt die Sozialhilfequote in Pflegeheimen bei etwa einem Drittel. Vor Einführung der Gesetzlichen Pflegepflichtversicherung waren es 80 Prozent. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen zudem einen deutlichen Rückgang der Ausgabenentwicklung bei der „Hilfe zur Pflege“ in stationären Einrichtungen. Die bestehende Pflegeversicherung mit ihrer Teilübernahme der Kosten erfüllt somit sozialpolitisch nach wie vor ihren Zweck: Die allermeisten Pflegebedürftigen können stationäre Pflege aus eigenen und aus den Mitteln der Pflegversicherung selbst finanzieren. Eine aktuelle IW-Studie zeigt, dass etwa zwei Drittel der Rentnerhaushalte eine stationäre Pflege über mehrere Jahre aus eigener Kraft finanzieren können. Der Anteil, der auf staatliche Unterstützung durch „Hilfe zur Pflege“ angewiesen ist, liegt konstant bei einem Drittel aller stationär versorgten Pflegebedürftigen.

2. Hohe Belastung für Arbeitgeber

Schon heute belasten die permanent steigenden Sozialversicherungsabgaben die Arbeitnehmer und Arbeitgeber schwer. Der Beitragssatz in der Sozialen Pflegeversicherung sticht durch eine extreme Entwicklung hervor: In weniger als zwei Jahrzehnten hat er sich verdoppelt. Eine umlagefinanzierte Pflegevollversicherung würde diese Entwicklung beschleunigen. Laut Bundesregierung würde sie allein für die stationäre Pflege 6,9 bis 8,5 Milliarden Euro allein im ersten Jahr zusätzlich kosten. Bis 2030 würde eine Pflegevollversicherung den Beitragssatz auf über 5 Prozent in die Höhe treiben. Das würde den schon heute kriselnden Wirtschaftsstandort Deutschland zusätzlich schwächen. 

3. Zahlungsunfähigkeit der Sozialen Pflegeversicherung

Die Soziale Pflegeversicherung (SPV) ist schon jetzt defizitär. Für 2025 wird ein Minus von 4,4 Milliarden Euro erwartet. Grund dafür sind vor allem die Alterung unserer Bevölkerung und die massiven Leistungssteigerungen durch diverse Pflegereformen  der vergangenen Jahre. Um das Defizit auszugleichen, müsste der Beitragssatz erneut um bis zu 0,3 Beitragssatzpunkte steigen. Erst zum 1. Juli 2023 musste er auf 3,4 Prozent angehoben werden – Menschen ohne Kinder zahlen derzeit sogar 4 Prozent. Eine Pflegevollversicherung bedeutet eine weitere Leistungsausweitung, die die extrem angespannte Finanzsituation in der SPV weiter verschärfen würde. 

4. Verschuldung zu Lasten der jüngeren Generationen

Durch eine umlagefinanzierte Vollversicherung käme es zu einer weiteren erheblichen Umverteilung von den jüngeren zu den älteren Generationen. Das ist weder generationengerecht noch nachhaltig. Es besteht die Gefahr, dass die zunehmend überlasteten Jüngeren den „Generationenvertrag“ aufkündigen, etwa durch Schwarzarbeit oder Abwanderung ins Ausland.

5. Anreiz zur Eigenvorsorge geht verloren

Die Gesetzliche Pflegepflichtversicherung wurde 1995 bewusst als Teilabsicherung eingeführt. So wurde sichergestellt, dass im Pflegefall auch Alterseinkünfte und Vermögen eingesetzt werden. Das ist auch sinnvoll: Bei kaum einem existenziellen Risiko ist die persönliche Vorsorge so gut planbar wie in der Pflege. Denn in der Regel tritt Pflegebedürftigkeit erst im hohen Lebensalter auf. Damit bleibt genug Zeit, für etwaige Finanzierungslücken im Pflegefall selbst vorzusorgen – sei es mit persönlichen Rücklagen oder einer Pflegezusatzversicherung. So wird vermieden, dass die Solidargemeinschaft mit Arbeitnehmern und Arbeitgebern überfordert wird. Mit Einführung einer Pflegevollversicherung geht der Anreiz zur Eigenvorsorge verloren.

6. Illusion einer Vollabsicherung

Der Begriff „Pflegevollversicherung“ suggeriert zudem, dass diese sämtliche Kosten im Fall der Pflegebedürftigkeit abdeckt. Im Pflegeheim – dort wo das Problem der Finanzierungslücke am größten ist – ist jedoch lediglich die Übernahme der pflegebedingten Eigenanteile gemeint. Das sind 2024 im Bundesdurchschnitt über 1.400 Euro. Die Kosten für Unterkunft und Pflege sowie die Investitionskosten müssten weiterhin selbst bezahlt werden – das sind durchschnittlich auch noch einmal über 1.400 Euro pro Monat. Mit Einführung einer Pflegevollversicherung dürften viele Menschen den falschen Eindruck gewinnen, selbst gar nicht mehr vorsorgen zu müssen – und stünden so im Pflegefall doch wieder vor einer Finanzierungslücke.

7. Die Pflegevollversicherung subventioniert die Oberschicht

Eine Pflegevollversicherung schützt auf Kosten aller Beitragszahler die Vermögen der Mittel- und Oberschicht. Denn gerade Menschen mit höherem Einkommen bzw. Vermögen können die Pflegekosten durchaus selbst tragen. Mit einer Vollversicherung – von der Solidargemeinschaft finanziert – könnten sie jedoch ihr privates Vermögen schonen. Die Pflegevollversicherung schützt damit also eher die Erben wohlhabender Menschen, anstatt Bedürftige gezielt zu unterstützen.

Eine Pflegevollversicherung bedeutet massive Zusatzlasten für die Beitragszahler, aber keine gezielte Hilfe für ärmere Pflegebedürftige. Stattdessen erhält die vermögendste Rentnergeneration aller Zeiten zusätzliche Leistungen aus der Gießkanne, obwohl die meisten in Eigenverantwortung für ihre Pflegekosten selbst vorsorgen können. Und das auf Kosten von Beitragszahlern, die weit weniger wohlhabend sind als viele Profiteure einer Vollversicherung.

Florian Reuther, PKV-Verbandsdirektor

Die Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch

Lösungsvorschläge für eine generationengerechte Reform der Pflegeversicherung liegen auf dem Tisch: Zum Beispiel mit dem Neuen Generationenvertrag der Privaten Krankenversicherung oder dem Konzept „PflegePlus“ des vom PKV-Verband initiierten Experten-Rats „Pflegefinanzen“.

Und wer zur Finanzierung von Pflegeleistungen über die gesetzliche Absicherung hinaus nicht auf private Einkünfte und Vermögen zurückgreifen möchte, kann jederzeit mit einer Pflegezusatzversicherung vorsorgen. Das ist oft günstiger, als viele glauben. Darüber hinaus gibt es funktionierende betriebliche Tarif-Lösungen, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften praxistauglich umgesetzt werden und erprobt sind.

Anstatt auf den Irrweg einer umlagefinanzierten Pflegevollversicherung zu setzen, sollte die nachhaltig und generationengerecht finanzierte private und betriebliche Pflege-Vorsorge weiter ausgebaut werden. Mit der größeren Eigenverantwortung geht eine dauerhafte Entlastung der Beitragszahler – Arbeitnehmer wie Arbeitgeber – einher.