Generationenbilanz: Gesundheit und Pflege auf Pump
Meldung04. Januar 2024
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts diskutiert Deutschland über die Schuldenbremse. Wie wichtig ein transparenter und nachhaltiger Umgang mit den öffentlichen Finanzen ist, zeigt eine Analyse der Stiftung Marktwirtschaft.
Der Bundestag hat die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse auch für das Jahr 2023 ausgesetzt und so den Weg für einen Nachtragshaushalt freigemacht. Politiker von SPD, Grünen und Linken setzen sich dafür ein, die Schuldenbremse weiter auszusetzen oder sogar ganz anzuschaffen. Die Bundesregierung lehnt diese Forderungen bislang ab und hält an der Schuldenbremse fest. Sie wurde 2009 eingeführt, damit die Schulden von heute die Generationen von morgen nicht erdrücken. „Die Schuldengrenze ist gelebte Nachhaltigkeit und ein Bollwerk für Generationengerechtigkeit“, bezeichnet PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther ihre Bedeutung.
Ihre Schutzfunktion für die nachfolgenden Generationen wird besonders deutlich beim Vergleich mit dem Finanzsystem der gesetzlichen Sozialversicherungen. In den umlagefinanzierten Sozialsystemen wird seit jeher die Bezahlung der heute zugesagten Leistungen in die Zukunft verschoben – und dadurch quasi ein verdeckter zusätzlicher Schuldenberg aufgehäuft. Welche Belastungen dadurch auf die nachfolgenden Generationen zukommen, weist die Stiftung Marktwirtschaft in ihrer alljährlichen Generationenbilanz aus.
Die implizite Verschuldung der Gesetzlichen Krankenversicherung und Sozialen Pflegeversicherung
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen vom Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge nutzt die Generationenbilanzierung, um die finanzielle Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit der Sozialversicherungen zu berechnen. Die Methode schreibt dafür die Beitragseinnahmen und die Leistungsausgaben unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung sowie der wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in die Zukunft fort. Auf dieser Basis können die Pro-Kopf-Zahlungen des durchschnittlichen Versicherten eines Altersjahrgangs ins Verhältnis zu den Versicherungsleistungen gesetzt werden, die bis zum Lebensende in Anspruch genommen werden. Der Saldo wird in einem sogenannten „Generationenkonto“ festgehalten.
Wenn die zukünftigen Ausgaben die zukünftigen Einnahmen übersteigen, spricht man von einer impliziten Verschuldung. Weil die in der Zukunft liegenden Leistungsverpflichtungen nicht wie explizite Schulden (z.B. bestehende Kredite oder Darlehen) verbrieft sind, wird auch von „verdeckten“ Schulden gesprochen. In den umlagefinanzierten Sozialversicherungen entstehen implizite Schulden, wenn eine Alterskohorte im Laufe ihres Lebens mehr Leistungen erhält als sie in die Versicherung eingezahlt hat. Der Saldo des Generationenkontos rutscht ins Minus und muss durch die nachfolgenden Generationen ausgeglichen werden. Aus der Summe von expliziten und impliziten Schulden entsteht die sogenannte „Nachhaltigkeitslücke“, die in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ausgewiesen wird. Sie bietet einen Indikator dafür, wie weit die Sozialversicherung aktuell von einer generationengerechten Lastenteilung entfernt ist.
Kranken- und Pflegekassen sind nicht auf den demografischen Wandel vorbereitet
Die Ergebnisse dieser Generationenbilanz für GKV und SPV sind alarmierend. Vor allem die Auswirkungen des demografischen Wandels werden zur Herausforderung. Ab 2025 wird die Generation der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Die Zahl der Erwerbspersonen wird bis 2030 um fast 1,5 Millionen Personen zurückgehen. 5 Jahre später fehlen dem Arbeitsmarkt dann schon 5,8 Millionen Personen, während die Zahl der Menschen im Ruhestand bis dahin um 4,5 Millionen gestiegen ist.
Das Problem: Im Umlageverfahren der GKV und SPV müssen die aktiv Erwerbstätigen die Ausgaben von Ruheständlern mittragen, weil die Beiträge auf Renteneinkünfte und sonstige Ruhegelder nicht kostendeckend sind. Anders als die Private Krankenversicherung mit ihrem Aufbau kapitalgedeckter Alterungsrückstellungen treffen die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen für die höheren Leistungsausgaben der alternden Gesellschaft keine Vorsorge. Und weil die Ausgaben für die gesetzlichen Leistungszusagen in den kommenden Jahrzehnten demografiebedingt stark steigen werden, klafft dort eine gewaltige Nachhaltigkeitslücke: Im Juni 2022 lag schon allein die implizite Verschuldung der Gesetzlichen Krankenversicherung bei 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in der Sozialen Pflegeversicherung bei gut 52 Prozent. Umgerechnet auf die Jahresleistung des BIP von 2021 (3,57 Billionen Euro) beträgt die Nachhaltigkeitslücke somit die unvorstellbare Summe von rund 2,5 Billionen Euro für die GKV sowie 1,9 Billionen Euro für die SPV. Das sind zusammen also rund 4.400 Milliarden (!) Euro verdeckte Schulden.
Gesetzlich Versicherte müssen sich auf stark steigende Beiträge einstellen
Die Aussichten für die Versicherten sind düster. Zum Jahresbeginn 2024 gab es in der GKV so starke Beitragserhöhungen wie seit 15 Jahren nicht mehr. Für über 17 Millionen GKV-Mitglieder steigen die Zusatzbeiträge mehr als drei Mal so hoch wie vom Schätzerkreis erwartet. „Auch 2025 drohen höhere Beitragssätze“, warnt der GKV-Spitzenverband. Diese Entwicklung war vorauszusehen. Zuletzt hatten die Ökonomen Prof. Thiess Büttner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Prof. Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum die Beitragssatzentwicklung der umlagefinanzierte Sozialsysteme bis 2030 berechnet und zur Stabilisierung der Beitragssätze dann einen zusätzlichen Finanzbedarf von 86 Milliarden Euro pro Jahr identifiziert.
Die Chance einer verursachergerechten Aufteilung der demografischen Belastung wurde in den vergangenen Jahrzehnten sehenden Auges vertan.
„Die Generationen, die zu wenige Kinder bekommen haben, um den Status quo der Sozialversicherungen aufrecht zu erhalten, hätten in der Vergangenheit Rücklagen bilden müssen, statt sich auf die für sie vorteilhafte Umlagefinanzierung zu verlassen“, schreiben die Autoren der Generationenbilanz. Die derzeitige Herangehensweise einer vollständigen Verschiebung der Traglast auf die jungen und nachfolgenden Generationen birgt die Gefahr, dass dieser Streit eskaliert und die jungen Generationen sich fragen, ob sie vor diesem Hintergrund wirklich bereit sind, die Generationenverträge einzuhalten“, lautet ihr Fazit.
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