Meldung 09. September 2024

Der Experten-Rat „Pflegefinanzen“ kritisiert in einer Stellungnahme die aktuelle Kostenprognose der Bundesregierung zur Sozialen Pflegeversicherung. Der Vorwurf: Die Annahme künftiger Einnahmen wie Ausgaben beruhe auf einer unrealistischen Kalkulation.

von links nach rechts: Prof. Dr. Thiess Büttner, Prof. Dr. Christian Rolfs, Prof. Dr. Christine Arentz, Prof. Dr. Jürgen Wasem, Constantin Papaspyratos

Der vor zwei Jahren vom PKV-Verband initiierte Experten-Rat „Pflegefinanzen“ hat den aktuellen Bericht der Bundesregierung zur künftigen Pflegefinanzierung harsch kritisiert. Darin hatte der Bund im Mai dieses Jahres die künftige Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) prognostiziert und vier mögliche Szenarien aufgestellt, wie die kommende Pflegefinanzreform aussehen könnte. 

Einnahmen und Ausgaben falsch kalkuliert

Das interdisziplinäre Expertengremium hält die Prognosen der Bundesregierung für äußerst problematisch. Der Grund: Die Datenbasis für die Berechnungen beruhe auf „unrealistischen“ und „extrem optimistischen Annahmen“. Weder bei den pflegespezifischen Kostensteigerungen noch bei den durchschnittlichen Lohn- und Einnahmenentwicklungen oder den Inflationserwartungen entsprächen die Annahmen der Regierung den Erfahrungen der vergangenen 10 bis 20 Jahre. Deswegen ist der Experten-Rat überzeugt, dass die Prognose keine Entscheidungsgrundlage für die geplante Pflegereform sein könne.

Wir können nur davor warnen, die Pflegefinanzreform auf einer derart unrealistischen Basis aufbauen zu wollen.

Prof. Jürgen Wasem, Vorsitzender des Experten-Rats Pflegefinanzen

Grundsätzlich begrüßt der Experten-Rat in seiner Stellungnahme das Ziel der Bundesregierung, eine nachhaltige und generationengerechte Finanzierung der Pflege sicherzustellen. Erhebliche Bedenken bestünden allerdings hinsichtlich der vorgestellten Maßnahmen. Erst im April 2023 hatte das Expertengremium ein eigenes Modell vorgestellt. Mit dem sogenannten „Pflege Plus“-Konzept steht eine ergänzende, kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung für die stationäre Versorgung bereit, die zeitnah umgesetzt werden kann. Auch der Bericht der Regierung erwähnt die Möglichkeit, dem Umlageverfahren der SPV eine zweite, kapitalgedeckte Säule beiseitezustellen. Allerdings seien laut der Experten auch hier unrealistische Annahmen zugrunde gelegt worden, um das Vorsorgepotential einer kapitalgedeckten Versicherung vollumfassend abzubilden. 

Es ist in der zunehmend angespannten finanzpolitischen Lage besonders wichtig, von soliden und realistischen Finanzprojektionen auszugehen. Der Bericht der Bundesregierung zur Pflegefinanzierung enthält indes viel zu optimistische Annahmen und entzieht der wichtigen Pflegereform-Debatte so die notwendige Seriosität.

Prof. Thiess Büttner, Mitglied im Experten-Rat Pflegefinanzen

Mehr Leistungen nicht finanzierbar

Allein aufgrund der demografischen Entwicklung werden die Kosten in der Pflege in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Ein Ausbau der Versicherungsleistungen in der Umlagefinanzierung verbietet sich daher laut Experten-Rat von selbst. 

„Schon die neuen Zuschüsse zu den Eigenanteilen im Pflegeheim sind teuer und begünstigen Pflegebedürftige, die diese selbst bezahlen können“, sagt Prof. Christine Arentz vom Experten-Rat „Pflegefinanzen“. „Weitere Leistungsversprechen in der Umlage belasten einseitig die jüngeren Generationen und werden später nicht mehr zu halten sein.“ Es sei im Interesse aller, Pflegekostenrisiken nachhaltig abzusichern, so die Wissenschaftlerin von der Technischen Hochschule Köln.

Weitere Leistungsversprechen in der Umlage belasten einseitig die jüngeren Generationen. Und werden später nicht mehr zu halten sein. Es ist im Interesse aller, Pflegekostenrisiken nachhaltig abzusichern.

Prof. Christine Arentz, Mitglied im Experten-Rat Pflegefinanzen

Gemeint ist z. B. der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), eine Obergrenze der Eigenanteile für stationäre Pflegekosten einzuführen. Mit diesem als „Sockel-Spitze-Tausch“ bekannten Modell sollen die pflegebedingten Eigenanteile festgelegt werden, während die Finanzierung der darüber hinaus gehenden Kosten weiterhin im Umlageverfahren erfolgt. Laut Experten-Rat sprechen gleich drei Gründe gegen den Vorschlag des Gesundheitsministers: 

  • Zusätzliche Belastung der jüngeren Generationen: Wenn die Eigenteile für die Versicherten begrenzt werden, muss dies über immer weiter steigende Beitragssätze zur Sozialen finanziert werden. Damit werden aber vor allem die jungen Menschen belastet, die aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft ohnehin schon deutliche Mehrlasten zu schultern haben. Das vom Expertenrat vorgeschlagene Modell der Pflege-Plus-Versicherung sieht hingegen eine kapitalgedeckte Finanzierung der Spitzenkosten vor, wodurch die Last nicht auf die jüngeren Generationen übertragen wird.
  • Soziale Ungerechtigkeiten: Eine Obergrenze würde faktisch als Vermögensschutz für wohlhabende Pflegebedürftige dienen, die ihre Pflegekosten eigenverantwortlich tragen könnten. Die Deckelung der Eigenanteile würde diese Gruppe deutlich entlasten, während auch Gering- und Niedrigverdiener über ihre Sozialversicherungsbeiträge zur Sicherung der Vermögenswerte besser gestellter Haushalte beitragen müssten. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum staatliche Mittel oder Sozialversicherungsbeiträge eingesetzt werden sollten, um die Vermögen wohlhabender Haushalte zu schützen und deren Erben zu begünstigen.
  • Massive Ineffizienzen: Ein Gedanke hinter dem Vorschlag nach einer Obergrenze der Eigenanteile ist, dass weniger Menschen „Hilfe zur Pflege“ beantragen müssten. Die Hoffnung: Damit würden die Kommunen entlastet, die für diese Unterstützungsleistungen zuständig sind. Für den Experten-Rat ist diese Annahme – zumindest in der erwarteten Höhe der Entlastung – ein Trugschluss. Der „Sockel-Spitze-Tausch“ sei hierfür ein „äußerst kostspieliger und ineffektiver Ansatz“. Die Experten verweisen auf den Versuch, die Kommunen mit Einführung der Zuschüsse zu den Eigenanteilen durch die Pflegereform 2021 zu entlasten. Zwar sanken dadurch die Ausgaben der „Hilfe zur Pflege“ von 2021 auf 2022 tatsächlich um 1,3 Milliarden. Euro. Doch gleichzeitig stiegen die Ausgaben der Sozialen Pflegeversicherung für den stationären Bereich um 3,5 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Für jeden eingesparten Euro in den Kommunen müssen drei Euro aus Beitragsmitteln aufgewendet werden. Ähnlich dürfte es beim „Sockel-Spitze-Tausch“ sein.

Stellungnahme des Experten-Rats