Meldung 04. Februar 2025

Die Sozialabgaben in Deutschland haben 2025 ein Rekordhoch erreicht. Jetzt gibt es Rufe nach zusätzlichen Steuerzuschüssen für die Sozialversicherungen. Warum eine Steuerfinanzierung deren Finanz-Dilemma nicht lösen kann, erläutert Dr. Guido Raddatz von der Stiftung Marktwirtschaft.

Foto Dr. Guido Raddatz, Stiftung Marktwirtschaft

Seit 2004 erhält die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, die Soziale Pflegeversicherung (SPV) seit 2020. Sie sagen, damit werde „zunehmend die Gerechtigkeit des Systems unterminiert“. Wie meinen Sie das?

Gerechtigkeitsprobleme entstehen beispielsweise dadurch, dass nicht alle Steuerzahler zugleich auch Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung bzw. Sozialen Pflegeversicherung sind. Das gilt etwa für Beamte und Selbständige sowie Arbeitnehmer mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, die in der PKV versichert sind. Wie alle anderen Arbeitnehmer auch müssen sie mit ihren Steuerzahlungen die Bundeszuschüsse an die GKV und SPV mitfinanzieren. Da sie selbst jedoch kein Teil der Versichertengemeinschaft sind, kommen sie nicht in den Genuss der finanziellen „Entlastung“ innerhalb der GKV oder SPV.

Als weiteres Problem kommt hinzu, dass die Sozialversicherungen in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung alles andere als generationengerecht ausgestaltet sind. Die voranschreitende Bevölkerungsalterung wird bei Fortführung des Status quo dazu führen, dass die Renten-, Gesundheits- und Pflegeausgaben in den kommenden Jahrzehnten deutlich schneller steigen werden als die Beitragseinnahmen. Beitragssatzsteigerungen, die vor allem die Jüngeren im erwerbsfähigen Alter belasten werden, sind damit bei Fortführung des Status quo vorprogrammiert. Der Versuch, diese Beitragssatzsteigerungen durch steigende Steuerzuschüsse abzumildern, würde das skizzierte Gerechtigkeitsproblem verschärfen.

Warum ist es auch sonst keine sinnvolle Alternative, mit Steuerzuschüssen finanzielle Defizite abzumildern?

Die Finanzsituation des Bundes ist ähnlich schwierig wie die der Sozialversicherungen. Schon heute fließt etwa die Hälfte des Bundeshaushaltes in den Sozialbereich. Weitere Steuerzuschüsse an die Sozialversicherungen würden den Bundeshaushalt schon in wenigen Jahren schlicht überfordern. Hinzu kommt: Steuerzuschüsse ändern kaum etwas an der intergenerativen Lastenverteilung. Die Generation der zukünftigen Beitragszahler ist auch die Generation der zukünftigen Steuerzahler. Die Verlagerung von Beitragszahlungen zu Steuern ist nichts anderes als das Prinzip „linke Tasche – rechte Tasche“: Am Ende resultiert für die Erwerbstätigen im Zeitablauf eine immer höhere Gesamtbelastung durch Steuern und Beiträge. Allerdings sind Beitragssatzsteigerungen für die Bürger über ihre Lohn- und Gehaltsabrechnungen sehr viel direkter sichtbar als intransparente Steuerzuschüsse des Bundes an die Sozialversicherungen, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden. Indem Steuerzuschüsse die Beitragssätze künstlich niedrig halten, verschleiern sie die finanziellen Herausforderungen der Sozialversicherungen und damit letztlich auch den drängenden Reformbedarf.  

Beim Thema „Steuerfinanzierung in der Sozialversicherung“ scheint es allerdings eine Ausnahme zu geben: Nämlich bei den versicherungsfremden Leistungen. Warum ist es wichtig, gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus Bundes- und nicht aus Beitragsmitteln zu finanzieren?

Versicherungsfremde Leistungen stehen nicht in direktem Zusammenhang mit dem eigentlichen Versicherungszweck und den dafür bezahlten Beiträgen, sondern werden in den Sozialversicherungen aufgrund bestimmter sozialpolitischer (Umverteilungs-)Ziele gewährt oder weil sie als gesamtgesellschaftliche Aufgaben angesehen werden, die von allen Bürgern und nicht nur von den Beitragszahlern finanziert werden sollten. Beispiele sind etwa familienpolitische Leistungen wie die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und von Partnern ohne eigenes Erwerbseinkommen in der Gesetzlichen Krankenversicherung oder sozialpolitische Fürsorgeleistungen wie die Grundrente in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Da diese Leistungen über den eigentlichen Versicherungszweck hinausgehen, ist es plausibel, dass die entstehenden Kosten nicht den Beitragszahlern angelastet, sondern durch die Gesamtheit aller Steuerzahler finanziert werden.

Wenn aber die staatlichen Systeme finanziell nicht überfordert werden sollen, wird es auf Dauer nicht ohne mehr Eigenverantwortung und Leistungskürzungen gehen.

Dr. Guido Raddatz , Stiftung Marktwirtschaft

Wenn Steuerfinanzierung kein geeignetes Finanzierungsinstrument ist, was sind dann die Alternativen? Weitere Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen?

Realistischerweise wird sich auf Dauer wohl beides nicht ganz vermeiden lassen. Dafür sind die Herausforderungen durch die Demografie und den kostentreibenden medizinisch-technischen Fortschritt einfach zu groß. Derzeit scheint sich die Politik allerdings mit Leistungskürzungen sehr viel schwerer zu tun als mit Beitragssatzsteigerungen – das legen zumindest die Entwicklungen der letzten Monate sowie manche Aussagen im aktuellen Bundestagswahlkampf nahe. In der Sozialen Pflegeversicherung sehen wir seit Jahren sogar nur Leistungsausweitungen – und einen stark steigenden Beitragssatz.

Wenn aber die staatlichen Systeme finanziell nicht überfordert werden sollen, wird es auf Dauer nicht ohne mehr Eigenverantwortung und Leistungskürzungen gehen. Für die Menschen bedeutet das, dass sie mehr Eigenvorsorge betreiben müssen, um Leistungskürzungen der Sozialversicherungen auszugleichen und im Alter trotzdem ausreichend abgesichert zu sein. Zu denken ist etwa an die ergänzende private Altersvorsorge oder kapitalgedeckte Zusatzabsicherungen für die Pflege.

Was müsste die kommende Bundesregierung Ihrer Meinung nach unternehmen, um die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig zu finanzieren?

In allen drei Zweigen der Sozialversicherungen, die unter der Bevölkerungsalterung leiden, sind Strukturreformen auf der Ausgabenseite notwendig, um den Kostendruck und damit den Finanzierungsbedarf zumindest abzumildern. Angesichts des steigenden Verhältnisses von Rentnern zu Arbeitnehmern müssen die Rentensteigerungen langfristig hinter der Lohnentwicklung zurückbleiben. Darüber hinaus sollte schnellstens eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters über das Jahr 2030 hinaus in Angriff genommen werden, beispielsweise durch eine Koppelung des gesetzlichen Renteneintrittsalters an die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung. Die Politik sollte die Menschen nicht in falscher Sicherheit hinsichtlich der zukünftigen Rentenentwicklung wiegen, sondern ihnen Planungssicherheit geben und sie von der Notwendigkeit ergänzender privater und betrieblicher Altersvorsorge überzeugen.

In der GKV muss der Leistungskatalog der GKV auf den Prüfstand, vor allem aber bedarf es einer Stärkung des Wettbewerbs und innovativer medizinischer Versorgungskonzepte, um die Effizienz des Gesundheitssystems insgesamt zu erhöhen. In der SPV sollten wir die Diskussion um weitere Leistungsausweitungen schnellstens beenden und stattdessen die Menschen zu mehr privater Vorsorge animieren.


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Die Finanzlage der Sozialen Pflegversicherung ist dramatisch. Ende vergangenen Jahres wurde sogar von einer drohenden Insolvenz in diesem Frühjahr gesprochen Wie konnte es soweit kommen?

Die Leistungsausweitungen der letzten Jahre in der SPV waren allesamt nicht solide gegenfinanziert. Wir sehen jetzt, dass selbst in der kurzen Frist die parallel zu den Leistungsausweitungen beschlossenen Beitragssatzerhöhungen nicht ausreichend sind, um die zusätzlichen Kosten zu decken. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird sich die finanzielle Notlage der SPV aufgrund des demografischen Wandels weiter zuspitzen. Damit sind permanente Beitragssatzsteigerungen in der SPV – aber auch in der GKV und der Rentenversicherung – vorprogrammiert. Es kann jedoch keine Lösung sein, wenn sich die Beitragssätze der Sozialversicherungen in der Summe von heute knapp über 40 Prozent auf 50 Prozent und mehr erhöhen. Da ein ungebremst wachsender Finanzierungsbedarf schlicht nicht zu decken sein wird, sind Leistungskürzungen unvermeidlich. Die SPV war im Übrigen von Anfang sinnvollerweise nur als Teilversicherung konzipiert gewesen, die nicht alle Kosten bei Pflegebedürftigkeit übernimmt. Diesen Aspekt sollten sich alle Beteiligten immer wieder in Erinnerung rufen und stärker auf Eigenverantwortung und Kapitaldeckung setzen.

Also was ist zu tun?

Eigentlich hätte man schon vor Jahrzehnten stärker auf eine ergänzende kapitalgedeckte Vorsorge in den Sozialversicherungen setzen sollen, als die Babyboomer noch am Anfang ihres Berufslebens standen. Heute ist es dafür aufgrund der voranschreitenden Bevölkerungsalterung fast schon zu spät, da der Aufbau eines Kapitalstocks notwendigerweise Zeit braucht. Vor allem in der Sozialen Pflegeversicherung wäre allerdings mehr kapitalgedeckte Vorsorge nach wie vor ausgesprochen sinnvoll. Pflegebedürftigkeit tritt in den meisten Fällen erst im hohen Alter ein, so dass auch die Babyboomer noch einen gewissen Kapitalstock aufbauen könnten, um ihre späteren Pflegekosten zu decken. Damit allerdings ist es nicht getan: Überlegenswert ist beispielsweise die Einführung von Karenzmonaten oder eines Karenzjahres zu Beginn der Pflegebedürftigkeit. Ein kurzer Zeitraum der beginnenden Pflegebedürftigkeit kann vergleichsweise gut mit eigenem Einkommen und Vermögen finanziell überbrückt werden, so dass sich die Pflegeversicherung auf die kostenintensiven Fälle längerer Pflegebedürftigkeit konzentrieren könnte.

Bei der SPD und den Grünen wurde kürzlich im Wahlkampf die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung gefordert. Wie bewerten Sie das mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft?

Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ist mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gerade in der aktuellen Situation höchst problematisch. Neben den zusätzlichen Kosten für Unternehmen würde man vor allem Leistungsträger aus der Mittelschicht treffen, die ohnehin schon stark durch Steuern und Sozialabgaben belastet sind. Aus Wettbewerbsüberlegungen wären stattdessen zumindest moderate Entlastungen sowohl von Unternehmen als auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Gebot der Stunde. Um angesichts knapper Kassen dafür Spielräume zu schaffen, muss es gelingen, die vorhandenen Mittel effizienter zu nutzen. An diese Mammutaufgabe muss sich die Politik in der kommenden Legislaturperiode machen.

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