Meldung 20. August 2024

Die demografische Entwicklung stellt die Sozialversicherungen vor gewaltige Herausforderungen. Kassen und Wirtschaftsverbände kritisieren deshalb neue kostentreibende Gesetze der Bundesregierung. Führende Ökonomen sprechen sich für eine stärkere Rolle der kapitalgedeckten Vorsorge aus.

„Die rote Linie ist deutlich überschritten!“, warnen die Familienunternehmer in einem Brandbrief an den Bundeskanzler. Im kommenden Jahr dürften nach aktuellen Prognosen die Sozialversicherungsbeiträge auf mehr als 42 Prozent des Bruttolohns ansteigen. Die Leistungsausgaben in der Kranken- und Pflegeversicherung steigen deutlich schneller als die Beitragseinnahmen. Die Lohnzusatzkosten belasten den Wirtschaftsstandort und gefährden die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Exportnation Deutschland. Der Wirtschaftsweise Martin Werding warnte im Handelsblatt davor, dass die Kosten „die immer noch einigermaßen gute Arbeitsmarktentwicklung aus dem Tritt“ bringen könnten.

„Wir brauchen dringend nachhaltige und ausgabensenkende Strukturreformen in allen Zweigen der Sozialversicherung“, schrieben die Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft in ihrer Gemeinsamen Erklärungen zur Stärkung des Standorts. Die Zeit drängt: Die deutschen Familienunternehmen fordern jetzt von der Regierung ein Notfallkonzept, um die Sozialabgabenquote wieder unter die rote Linie von 40 Prozent Lohnzusatzkosten zu bringen. Schon heute zählen die Lohnzusatzkosten in Deutschland zu den höchsten der Welt. Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag, also die Pflichtbeiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, liegt bei 40,9 Prozent. Ein weiterer Anstieg würde vor allem Arbeitsplätze gefährden – mit weitreichenden Folgen für die Sozialkassen und Steuereinnahmen.

Wir brauchen dringend nachhaltige und ausgabensenkende Strukturreformen in allen Zweigen der Sozialversicherung, aber ganz besonders in der Kranken- und Pflegeversicherung.

Gemeinsame Erklärung der Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft zum Münchener Spitzengespräch am 1.3.2024

Kassenbeiträge könnten um fast 1.000 Euro pro Jahr steigen

Der Mittelstand verzweifelt an den Standortbedingungen, schreibt die Welt über den „drohenden Beitragsschock“. Nach Berechnungen des BKK-Dachverbands wird sich der GKV-Zusatzbeitrag bis zum kommenden Jahr von heute 1,7 auf mindestens 2,3 Prozentpunkte erhöhen. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) rechnet sogar mit einem Anstieg von bis zu 0,8 Prozentpunkten, sollten die aktuellen Gesetzesvorhaben von Gesundheitsminister Karl Lauterbach wie die Krankenhausreform umgesetzt werden. „Wir müssen zurückkommen zu einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik“, fordert vdek-Vorständin, Ulrike Elsner. Angesichts der Prognosen für 2025 warnt der GKV-Spitzenverband vor einer „Kostenlawine“. Er rechnet damit, dass zusätzlich zum GKV-Beitrag auch der Beitragssatz in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) im kommenden Jahr um mindestens 0,2 Beitragssatzpunkte steigen muss.

Welche finanziellen Belastungen auf die Beitragszahler zukommen, zeigt nun der Entwurf für die Rechengrößenverordnung 2025. Der Krankenkassenbeitrag von Fachkräften mit einem Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze würde bei einem Anstieg des GKV-Beitragssatzes von derzeit durchschnittlich 16,3 Prozent auf dann 16,9 Prozent auf etwa 932 Euro im Monat steigen (2024: 844 Euro). Das wären 1.056 Euro pro Jahr mehr. Bei einem Anstieg des Beitragssatzes in der Sozialen Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte auf 4,2 Prozent würden pro Monat bis zu 234 Euro hinzukommen (2024: 207 Euro) – das sind nochmals 324 Euro pro Jahr zusätzlich.

Die Ergebnisse des Sechsten Tragfähigkeitsbericht sind ein Appell an die Politik, Strukturreformen in allen relevanten Politikbereichen anzustoßen. Die aktuelle Ausgestaltung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist in ihrer jetzigen Form langfristig nicht finanzierbar.

Bundesfinanzminister Christian Lindner am 20. März 2024

Demografischem Wandel mit Kapitaldeckung begegnen

Die Alterung der Gesellschaft setzt die Sozialsysteme unter massiven Druck. Aus der Wissenschaft mehren sich die Stimmen, den Folgen des demografischen Wandels mit mehr Elementen der kapitalgedeckten Vorsorge zu begegnen. „Wir müssen allen Menschen klarmachen: Sie müssen für die Kosten, die sie im Laufe des Lebens verursachen, früh Rücklagen bilden“, erklärte die Vorsitzende des „Rats der Wirtschaftsweisen“, Prof. Monika Schnitzer, in der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf die steigenden Pflegekosten. Dass in der Rentenversicherung nicht schon vor 20 Jahren eine Kapitaldeckungskomponente eingeführt wurde, sei ein großes Versäumnis der Babyboomer-Generation.

Zum gleichen Ergebnis kommt der wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium in einem Gutachten. Anders als in der Rentenversicherung sei es in der Pflegeversicherung jedoch noch nicht zu spät für eine generationengerechte Finanzreform. Der Beirat schlägt dafür die Einführung einer verpflichtenden kapitalgedeckten Zusatzversicherung vor. Auch die Ökonomen Prof. Stefan Fetzer und Prof. Christian Hagist warnen in einem aktuellen Gutachten: „Die Sozialversicherung in Deutschland steht vor einem Kipppunkt“. Während Fetzer und Hagist in der Gesetzlichen Krankenversicherung die Kosten durch mehr Eigenverantwortung, Digitalisierung und Wettbewerb bremsen wollen, setzen sie in der Pflege auf mehr kapitalgedeckte Vorsorge.

Denn der zentrale Fehler bei Einführung der SPV war ja eben nicht, einen weiteren Sozialversicherungszweig einzuführen, sondern dies zu 100 Prozent umlagefinanziert zu tun, obwohl versicherungsmathematisch und demografisch bereits sehr viel für einen dominanten, kapitalgedeckten Anteil gesprochen hat.

Prof. Dr. Stefan Fetzer und Prof. Dr. Christian Hagist , Gutachten „Mehr Nachhaltigkeit wagen“

Warum Pflege generationengerecht bleiben muss

In den kommenden Jahren wird die Zahl der Pflegebedürftigen stark zunehmen - die der erwerbsfähigen Beitragszahler nimmt hingegen ab. Die Soziale Pflegeversicherung gerät in die Schieflage. Wir haben Konzepte für eine generationengerechte und solidarische Finanzierung der Pflege vorgelegt.

Unsere Position zu Pflege

Demografischer Wandel treibt die Sozialabgaben

Allein die Stabilisierung der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung stellt die Bundesregierung vor massive Herausforderungen. Doch angesichts unserer alternden Bevölkerung stehen auch die Renten- und Arbeitslosenversicherung vor immensen Problemen. 

Das bestätigen Berechnungen von Prof. Thiess Büttner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Prof. Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum. Büttner ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und Werding wurde 2022 in den „Rat der Wirtschaftsweisen“ berufen. In ihrem Gutachten haben die beiden Ökonomen untersucht, wie sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und der demografische Wandel konkret auf die umlagefinanzierten Sozialsysteme auswirken.

Demnach müssten die Beitragssätze für die gesetzliche Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen bis zum Jahr 2030 auf 45,2 Prozent der beitragspflichtigen Einkommen steigen. Gleichzeitig steigen die jährlichen Bundeszuschüsse schon aufgrund bereits bestehender Leistungszusagen von heute 137 Milliarden auf 189 Milliarden Euro. Das „Handelsblatt“ fasste diese alarmierenden Ergebnisse mit der Überschrift zusammen: „Eine Zeitbombe namens Sozialversicherung“.

40-Prozent-Grenze: Bundeszuschüsse werden rasant steigen

Um die Beitragssätze der Sozialversicherungen ohne Reformen nahe bei 40 Prozent zu begrenzen, wären laut Büttner und Werding schon in der laufenden Wahlperiode bis 2025 zusätzliche Bundeszuschüsse in Höhe von 60 Milliarden Euro erforderlich, wobei der Bedarf von Jahr zu Jahr ansteigt. Und es kommt noch heftiger: Die Finanzierungslücke in der folgenden Wahlperiode (2026 bis 2029) ist dann schon das viermal so groß – insgesamt 236 Milliarden Euro. Diese Gelder würden dann für alle anderen Zwecke fehlen oder die Verschuldung des Bundes noch weiter explodieren lassen. Und auch danach wird es nicht besser: 2030 würde der zusätzliche Zuschussbedarf auf 86 Milliarden Euro steigen – pro Jahr. Fazit: Der Handlungsspielraum für die heutige Bundesregierung und ihre Nachfolgerinnen würde sich dadurch dramatisch verengen.

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Weitere Bundeszuschüsse sind keine Alternative

Angesichts dieser Projektionen scheidet eine Finanzierung über zusätzliche Bundeszuschüsse de facto aus. Denn das wäre ohne gravierende Steuererhöhungen kaum möglich. Hinzu kommt, dass die Zuschüsse an die Sozialversicherung dann mit anderen Investitionen im Bundeshaushalt zum Beispiel im Bereich Bildung, Klima, Digitalisierung etc. konkurrieren würden. Gegen eine Steuerfinanzierung spricht zudem, dass bestehende Lasten dadurch letztlich nur anders verteilt, aber nicht verringert werden. Auch eine Finanzierung durch höhere Schuldenaufnahme des Bundes kommt nach Überzeugung der Ökonomen nicht in Frage. Sie würde die deutsche Volkswirtschaft überfordern und zudem nicht nur gegen die verfassungsrechtliche Schuldenbremse verstoßen, sondern auch gegen die europäischen Schuldengrenzen.

Der dringende Rat der Wirtschaftsexperten an die Bundesregierung lautet angesichts ihrer Berechnungsergebnisse deshalb: „Ohne Strukturreformen in den einzelnen Sozialversicherungszweigen, die die Entwicklung ihrer Ausgaben spürbar dämpfen, wird eine Stabilisierung der Beitragssätze nach den hier angestellten Überlegungen schwerlich gelingen.“

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