29.06.2021 - Petra Lindemann vom Bundesarbeitgeberverband Chemie war maßgeblich am Zustandekommen der Vereinbarung beteiligt. Im Interview erzählt sie, wie die Verhandlungen mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) liefen und warum CareFlex Chemie eine gute Lösung für ein gesellschaftliches Problem ist.
Am 1. Juli ist die arbeitgeberfinanzierte tarifliche Pflegezusatzversicherung CareFlex Chemie gestartet. Damit erhalten mit einem Schlag hunderttausende Beschäftigte in der Branche eine zusätzliche Absicherung für den Fall der Pflegebedürftigkeit.
Frau Lindemann, was genau ist CareFlex Chemie?
Die tarifliche Pflegezusatzversicherung CareFlex Chemie ist eine gemeinsame Innovation der Sozialpartner BAVC und IG BCE. Wir geben eine wichtige tarifpolitische Antwort auf den demografischen Wandel, denn der Pflegebedarf steigt. Der Vereinbarung der tariflichen Pflegezusatzversicherung sind auf Arbeitgeberseite jedoch intensive Diskussionen vorausgegangen. Denn der Arbeitgeber übernimmt die Beiträge für seine Beschäftigten und ist auch bei der Umsetzung vor Ort gefragt.
Wie liefen die Verhandlungen mit der Gewerkschaft dazu?
Unabhängig von der Frage, ob die Pflegezusatzversicherung überhaupt Bestandteil des Tarifpakets 2019 werden sollte, haben wir bei Verhandlung der Konditionen, also des Beitrags und der Leistungen, mit der IG BCE ein gemeinsames Interesse verfolgt und am Ende auch ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Wir standen und stehen bei der Frage der inhaltlichen Ausgestaltung auf derselben Seite und haben äußerst konstruktiv zusammengearbeitet – wie wir das aus der Chemie kennen.
Ist das Problem einer möglichen Finanzierungslücke im Pflegefall öffentlich schon ausreichend bekannt?
In der Öffentlichkeit rückt das Thema einer Finanzierungslücke nach meiner Beobachtung mehr in den Fokus, allerdings meist erst durch persönliche Betroffenheit, also einen Pflegefall im familiären Umfeld. Diese Betroffenen brauchen nicht von der Sinnhaftigkeit einer Absicherung überzeugt zu werden - am Ende geht es ja auch um den Schutz des Vermögens der Kinder, deren Eltern pflegebedürftig werden. Wenn das Vermögen und die Einkünfte der Eltern nicht ausreichen, kann es passieren, dass die Kinder Zahlungen übernehmen müssen. Trotzdem wird das Pflegerisiko nur ungern realisiert. Die konkreten Zahlen sind noch längst nicht in den Köpfen angekommen. Wer weiß denn schon, dass bei einer stationären Pflege schnell Monat für Monat 2.000 Euro zusätzlich als Eigenanteil aufzubringen sind?
Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, gegen das Risiko Pflegebedürftigkeit vorzusorgen?
Die Finanzierung seines Pflegefalls sollte jeder für sich individuell sicherstellen. Wer tatsächlich Pflegefall wird, wünscht sich die beste persönliche Versorgung und eine gute Unterbringung. Wenn die persönlichen Rücklagen aufgebraucht sind und die Altersbezüge nicht ausreichen, müssen bei der Versorgung Kompromisse eingegangen werden oder die Kinder müssen unterstützen. Das wünschen sich Betroffene nicht.
Welche konkreten Vorteile bietet CareFlex für die Unternehmen in der Branche?
CareFlex Chemie steigert die Arbeitgeberattraktivität in jedem Fall. Unsere Absicherung steht ausschließlich Mitgliedsunternehmen im Flächentarifvertrag Chemie offen. Wir haben viele Anfragen von branchenangehörigen Unternehmen erhalten, die jedoch kein Mitglied sind. Das zeigt uns die Attraktivität, die unser Modell für viele Unternehmen hat. Übrigens sind auch einige Unternehmen wegen CareFlex Chemie in den Flächentarifvertrag eingetreten; das bestätigt uns darin, dass wir einen richtigen Schritt gegangen sind.
Stichwort Arbeitgeberattraktivität: Hat sich Corona auf den Fachkräftemangel in der Chemie-Branche ausgewirkt?
Corona hat die bestehenden Fachkräfteengpässe nicht verschärft, aber die Ausbildung insgesamt erschwert. Dennoch hat unsere Branche auch 2020 wieder mehr als 9.000 neue Ausbildungsplätze anbieten können. Chemie und Pharma sind weiterhin stark in der Nachwuchssicherung engagiert, gerade weil uns dieses Thema länger fordern wird als die Pandemie.
Denken Sie, dass viele Arbeitgeber auch außertariflich Beschäftigten dieses Angebot machen?
Ja, die ersten Anmeldezahlen belegen dies. Allerdings überlegen viele Unternehmen, ab wann sie die Versicherung auch ihren außertarifliche Beschäftigten und den leitenden Angestellten anbieten wollen. Nicht für alle steht das Modell ab dem 1. Juli 2021 zur Verfügung, wie dies bei den Tarifangestellten der Fall ist. Wir beobachten auch ein großes Interesse an der Aufstockung der eigenen Versicherung mit privaten Mitteln sowie der Versicherung von nahen Angehörigen zu attraktiven Bedingungen.
Ist ein Produkt wie CareFlex auch interessant für andere Branchen?
Das kann ich mir gut vorstellen. Allerdings werden sich auch andere Branchen die Frage stellen müssen, ob es zur Aufgabe des Arbeitgebers gehört, die Beschäftigten gegen einen Pflegefall abzusichern, der in der Regel erst viele Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis eintritt. Wir haben in der Chemie diese Frage intensiv diskutiert und sie am Ende mehrheitlich mit „Ja“ beantwortet.
Die Zuwendungen des Arbeitgebers zur CareFlex sind nur im Rahmen der 44-Euro-Sachbezugsfreigrenze steuer- und sozialabgabenfrei. Sollte die Politik das ändern?
Das fordern wir gemeinsam mit der IG BCE. Unsere Branche trägt mit CareFlex dazu bei, ein Problem zu lösen, an dem sich die Politik seit vielen Jahren die Zähne ausbeißt. Wir sind der Meinung, dass eine steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Förderung notwendig ist. Wir haben gemeinsam mit der IG BCE bereits Gespräche mit verschiedenen Ministerien geführt, bislang allerdings ohne Erfolg. Zwar sind alle Gesprächspartner von unserem Modell begeistert, aber außer großem Lob hat sich bisher leider nichts getan. Aber wir bleiben am Ball.
Gibt es weitere Verbesserungen der Rahmenbedingungen, die Sie sich von der Politik wünschen?
Bei der betrieblichen Altersversorgung besteht für Arbeitnehmer die Möglichkeit, per Entgeltumwandlung aus dem Bruttoentgelt Bestandteile abzuführen. Eine solche Öffnung fehlt im Bereich der Pflegeversicherung. So könnten Mitarbeiter zum Beispiel ihre tarifliche Absicherung aus ihrem Bruttoentgelt aufstocken - das wäre ein interessanter Ansatz und ebenfalls ein direkter Anreiz für die Arbeitnehmer, eigenverantwortlich zu handeln.