Ein dichtes Netz an Ärzten, verfügbaren Klinik- und Intensivbetten: Professor Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, analysiert im Interview die Erfolgsfaktoren für die Bewältigung der Corona-Pandemie in Deutschland.
07.09.2020 - Insbesondere die Mischung aus freien und staatlichen Akteuren im Gesundheitswesen haben dazu beigetragen. Ideen einer weiteren Verstaatlichung des Gesundheitssystems erfüllen ihn mit Sorge.
Herr Professor Wasem, wie schlägt sich das deutsche Gesundheitswesen in der Corona-Pandemie?
Wenn man sich die Sterbezahlen je eine Million Einwohner anguckt, sind wir im guten Schnitt. Aber was uns erspart geblieben ist, im Vergleich zu vielen anderen Ländern, sind Entscheidungen, die durch Kapazitätsmängel begründet sind. Es gab ja in vielen Ländern die Situation, dass es zu wenige Intensivbetten, zum Teil auch zu wenige Krankenhausbetten gab und deswegen die Versorgung nicht gewährleistet werden konnte. Das haben wir nicht. Uns sind sozusagen Rationierungsentscheidungen wegen Kapazitätsengpässen erspart geblieben.
Aber das Netz, das die Patienten in den Krankenhäusern auffängt, bei den ambulanten Ärzten, oder auch hinsichtlich der Laborkapazitäten, das ist schon ein sehr großes und ein sehr dichtes in Deutschland?
Ja. Wir haben ja in der Vergangenheit eher geklagt, dass wir Überkapazitäten haben, ich nehme mich da überhaupt nicht aus. Wir haben im internationalen Vergleich sehr hohe Bettenzahlen je 10.000 Einwohner, hohe Arztzahlen je 10.000 Einwohner. Und wir haben auch eine Diskussion gehabt, die – glaube ich – grundsätzlich richtig ist: dass die Krankenhäuser eher bemüht sind, künstlich Bedarf zu schaffen, weil sie so hohe Kapazitäten haben. Aber genau das hat sich jetzt als Vorteil erwiesen. Wir haben in der Tat ein gutes, dichtes Netz. Und jetzt war es nicht zu viel, sondern jetzt war es genau richtig.
Wir erleben im Augenblick vor allem ein relativ starkes aktives politisches Handeln. Aber gleichwohl: Täuscht der Eindruck, dass wir in Deutschland vielleicht auch deshalb recht gut aufgestellt sind, weil wir immer noch sehr viele freiheitliche Elemente in der Versorgung haben?
Das ist schwierig zu sagen. Wir haben wahrscheinlich relativ schnell Konsens, dass die USA, die viel freiheitlicher sind als wir, ein Desaster haben. Das ist sicherlich deswegen so einfach nicht. Aber ich denke schon, dass die Mischung aus Selbstverwaltung, freien Akteuren und staatlichen Akteuren bei uns insgesamt zur Leistungsfähigkeit beiträgt. Und wir haben relativ früh richtige Entscheidungen getroffen, die wir uns auch haben Geld kosten lassen. Die Entscheidung, große Anreize zu setzen, die Intensivkapazitäten auszubauen, war natürlich richtig. Die Entscheidung, zu sagen, wir belohnen leerstehende Betten, damit nicht notwendige Krankenhausaufenthalte nicht stattfinden, war richtig. Und auch die Idee, Rettungsschirme für die diversen Leistungserbringer zu basteln, war richtig.
Sorge vor mehr Staat im Gesundheitssystem
Sie haben gesagt, die USA machen es nun gerade nicht besonders gut: ein sehr stark privat organisiertes Gesundheitswesen. Aber alles, was rein staatlich ist – überwiegend zumindest – wie in Großbritannien, funktioniert auch nicht so gut. Also nochmal die Frage: Ist unser Mix doch ganz gut?
Großbritannien hat ja traditionell – ich würde sagen – unterfinanziertes Gesundheitssystem. Unterfinanzierung zu bewirken und über Jahrzehnte durchzuhalten ist wahrscheinlich in einem staatlichen System leichter als in einem beitragsfinanzierten und dann nochmal gemischten System, wie wir es haben. Da kann der Finanzminister sagen: Deckel drauf, und dann ist das so.
Sie vernehmen sicher auch erste Stimmen aus der Politik, die sagen: Corona, das nehmen wir uns zum Anlass, um das Gesundheitssystem in Zukunft noch stärker zu verstaatlichen. Was halten Sie von solchen Ideen?
Das erfüllt mich in der Tat mit Sorge. Die Covid-Gesetze und Covid-Verordnungen sind ja befristet, weit überwiegend mit Daten. Ich hoffe sehr, dass Corona irgendwann tatsächlich vorbei ist – dann laufen auch diese Dinge entweder automatisch aus oder sie werden explizit von der Politik zurückgedreht. Ich fände es kein gutes Signal, wenn wir in zwei Jahren noch in der Situation wären, dass ganz viele Entscheidungen einfach staatlich getroffen werden.