21.04.2020
Katharina Jünger ist CEO des Unternehmens „Teleclinic“, das sie 2015 in München als Startup gegründet hat. Die Plattform zur Organisation von ärztlichen Video-Sprechstunden beschäftigt heute 60 Mitarbeiter. Mehr als 30.000 Patienten haben dieses Angebot zu digitalen Arztbesuchen bereits genutzt.
Seit der Corona-Krise gibt es viele Schlagzeilen über Video-Sprechstunden. Wie entwickelt sich die Nachfrage nach Ihrem Telemedizin-Angebot?
Das Verständnis, dass Telemedizin eine sinnvolle Alternative zum Arztbesuch vor Ort ist, hat sich enorm gesteigert. In den letzten Jahren mussten wir immer rechtfertigen, dass Online-Arztbesuche wirklich ihren Zweck erfüllen und dass auch dort Diagnosen in einer hohen Qualität gestellt werden. Das ist jetzt nicht mehr notwendig. Die Patienten hören jeden Tag von führenden Virologen im Fernsehen, dass es sinnvoll ist, online zum Arzt zu gehen. Dieses größere Verständnis schlägt sich natürlich auch in unseren Zahlen nieder. Wir sind in den letzten zwei Monaten jede Woche um weitere 50 Prozent gewachsen. Das ist schon enorm für uns. Das hat uns ein bisschen überrannt, aber wir haben es dann sehr gut hinbekommen. Wir erwarten, dass auch nach der Corona-Krise das Verständnis für Telemedizin in der Gesellschaft dauerhaft höher sein wird.
Liegt der Antrieb hauptsächlich in der Sorge vieler Patienten, sie könnten sich im Wartezimmer der Arztpraxis anstecken?
Das ist nicht nur bei Corona so, sondern grundsätzlich einer der großen Vorteile von Telemedizin. Wartezimmer sind einfach ein Hauptort, an dem sich Menschen anstecken, ob mit Grippe oder Schnupfen oder was auch immer. Daneben ist aber auch die Zeitersparnis sehr relevant. Für einen normalen Arztbesuch muss ich erst einen Termin machen, dann muss ich hinfahren, dann sitze ich im Schnitt 45 Minuten im Wartezimmer bis ich drankomme. All das kann man sich bei der Telemedizin ersparen: Man vereinbart einen Termin, weiß dann ganz genau, wann er stattfindet, kann sich auf sein Sofa setzen und ist dann ohne jegliche Wartezeit direkt im Arztgespräch.
Wie bewerten denn die Patienten die Qualität der Videogespräche?
Wir bekommen sehr gute Rückmeldungen von den Patienten. In einer normalen Arztpraxis gibt es oft Ablenkungen vom eigentlichen ärztlichen Gespräch – da kommt die Schwester mit einer Rückfrage, da muss etwas unterzeichnet werden und so weiter. Bei uns kann der Arzt sich ganz auf das Gespräch konzentrieren. Patienten sagen uns, jetzt verstünden sie endlich mal, um was es bei ihrer Krankheit geht. Zudem können sie sich nach dem Gespräch in unserer App immer nochmal eine Zusammenfassung durchlesen. Dann können später nochmal nachschauen, was denn der Arzt gesagt hat und wie genau man die Arznei jetzt anwenden soll.
Werden die Gespräche aufgezeichnet?
Nein, sie werden nicht aufgezeichnet. Aber der Arzt ist verpflichtet, nach dem Gespräch eine Art Arztbrief in laienverständlicher Sprache zu verfassen. Den kann der Patient dann in der App einsehen.
Wie reagiert die Ärzteschaft auf Ihr Angebot? Gibt es da Eifersucht oder Konkurrenzängste?
Wir sind ja keine Konkurrenz für niedergelassene Ärzte, sondern wir sind eine Plattform für niedergelassene Ärzte. Gerade in der Corona-Zeit haben sich sehr viele Ärzte bei uns gemeldet, deren Praxen leer waren – weil die Patienten ja aufgefordert waren, nur zu kommen, wenn es unbedingt erforderlich war. Die Ärzte selbst suchen eine Möglichkeit zur Telemedizin, da erleben wir da eine große Nachfrage. Und wir hören auch sehr oft von den Ärzten, die neu dabei sind, dass ihnen das viel Freude macht.
Als Sie Ihr Startup 2015 gegründet haben, war die Telemedizin noch gar nicht richtig zugelassen. Wie haben Sie es geschafft, damit überhaupt in Tritt zu kommen?
Als wir „Teleclinic“ gegründet haben, gab es noch das sogenannte Fernbehandlungsverbot. Das heißt, die Ärzte durften online Patienten noch gar nicht behandeln. Es gab auch noch keine digitalen Rezepte und keine digitalen Krankschreibungen. Und es gab auch keine Erstattung von den Krankenversicherungen. Aber wir waren so stark vom Mehrwert der Telemedizin überzeugt, dass wir zunächst Ärzte und Patienten gesucht haben, die bereit waren, es einfach mal auszuprobieren. Und dann haben wir unser Konzept mit den ersten Erfahrungswerten den Ärztekammern, dem Gesundheitsministerium und den Versicherungen vorgestellt – in der Hoffnung, dass man dieses Gesetz ändern kann. Das ist dann ja auch passiert.
Wie haben Sie es geschafft, dass Ihrem Startup auf dieser Strecke nicht die Puste ausgegangen ist?
Wir haben eine große Anzahl von Ärzten und Patienten überzeugen können. Und wir haben in der Privaten Krankenversicherung sehr innovative Unternehmen gefunden, die von Anfang an dazu bereit waren, die Telemedizin als Pilotprojekt auszuprobieren und zu erstatten – obwohl es rechtlich damals noch eine Grauzone war. Ohne diese Unterstützung hätten wir es vermutlich nicht geschafft, auf den Markt zu kommen. Auf dieser Basis konnten wir loslegen. So konnten wir dann sehr gute Anwendungsfälle und Datenauswertungen dokumentieren. Damit konnten wir zeigen, in welchen Fällen Telemedizin geht und in welchen nicht, welche Faktoren für eine hohe Zufriedenheit der Patienten und der Ärzte signifikant sind.
Ihre Hoffnung, das Fernbehandlungsverbot aufzuheben, hat sich ja inzwischen erfüllt.
Ja, im Mai 2018 war es endlich so weit, dass das Fernbehandlungsverbot auf Bundesebene aufgehoben wurde. Das war ein Durchbruch. Seitdem sind wir sehr stark gewachsen. Aber bisher fast ausschließlich mit Privatpatienten.
Woran liegt das?
Die GOÄ, also das Abrechnungssystem der Privaten Krankenversicherung, ist einfach sehr viel flexibler als der EBM, das Abrechnungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In der GOÄ gibt es die Möglichkeit, neue und innovative Leistungen schneller zu vergüten. Insofern ist die Telemedizin für Privatpatienten schon eine echte Alternative – und da haben wir sehr gute Nachfrage. Aber für die 90 Prozent der GKV-Patienten gilt das eben leider noch nicht.
Bei anderen medizinischen Innovationen hat sich erwiesen, dass die frühzeitige Erstattung für die Privatversicherten eine Vorbildfunktion für die Gesetzlichen Krankenkassen hatte, solche Leistungen dann auch für die GKV-Versicherten zu übernehmen. Wie ist das bei der Telemedizin?
Da sind wir sehr froh, dass sich Ende 2019 eine Änderung ergeben hat, die auch stark vom Bundesgesundheitsministerium vorangetrieben wurde. Das EBM-System der GKV wurde so angepasst, dass Ärzte die Behandlung von Kassenpatienten auch dann abrechnen können, wenn die Behandlung komplett online erfolgt. Diese Aufnahme in die Regelerstattung der GKV ist nach der Aufhebung des Fernbehandlungsverbots die zweite große regulatorische Änderung für die Telemedizin. Damit können wir jetzt im Mai 2020 bundesweit an den Start gehen, sodass dann auch die Kassenpatienten uns kostenfrei nutzen können, weil der Arzt das regulär über die GKV abrechnen kann.
Sehen Sie nach diesen Fortschritten noch weiteren Änderungsbedarf in der Regulierung?
Zu einer vollständigen Telemedizin gehören unbedingt noch das digitale Rezept und die digitale Krankschreibung. Diese beiden Dokumente sind ein wichtiger Teil der Therapie und Diagnostik, ohne sie ist es kein echter Arztbesuch. In der Privaten Krankenversicherung können wir schon digitale Rezepte und digitale Krankschreibungen ausstellen. Da gibt es strenge Richtlinien, aber es funktioniert sehr gut, die Ärzte und die Patienten – und auch die Versicherer – sind sehr zufrieden. In der GKV gibt es beides leider noch nicht. Insofern ist es zwar gut, dass jetzt die Erstattung möglich ist. Aber ohne das digitale Kassenrezept und die digitale Krankschreibung ist eigentlich die Telemedizin noch nicht richtig angekommen in der GKV.